Ende der Dürre

Grau ging die Gasse zur Adenauerallee hinauf. Er fühlte sich leicht, machte sogar ein paar tänzelnde Schritte. Die Sonne stach immer noch sehr intensiv, und als er sich umdrehte, sah er die Luft über dem Fluss flimmern.

Er hob die Hand und schrie: »Bis später!« Es freute ihn, dass solch auffälliges Gebaren für White peinlich sein musste. Scheißgeheimdienstheinis, dachte er übermütig. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, ein Taxi zu nehmen, aber dann missfiel ihm die Idee, in einem engen Raum eingesperrt zu sein.

Grau wanderte in den Hofgarten hinein, er wollte nicht in die Wohnung zurück. Es war Angies Wohnung, nicht seine, nicht ihre gemeinsame, es war Angies Wohnung. Er mochte diese Wohnung nicht, er hatte sie nie gemocht. Sie war immer sauber, immer so unendlich sauber, als käme gleich eine ausländische Besuchergruppe.

Er hatte einmal zornig geäußert, die Wohnung sei dank des Weißen Riesen so keimfrei, dass man die Spiegeleier von den Fliesen neben der Lokusschüssel essen könnte. Angie war tagelang beleidigt gewesen. Wenn sie Staub entdeckte, entfernte sie ihn hastig und verschämt und dachte lange darüber nach, wie sie ihn nur hatte übersehen können.

Am zweiten oder dritten Tag ihrer Geschichte hatten sie schön und wild auf einem Bettvorleger im Schlafzimmer miteinander geschlafen. Danach hatte Angie hastig den Läufer gepackt und ihn in die Waschmaschine gestopft. Jeden Abend vor dem Zubettgehen ging sie durch die Wohnung und räumte alles an seinen Platz.

Grau kam an ein paar Tischchen vorbei, die vor einer Bäckerei auf dem Gehweg aufgestellt waren. Er suchte sich eins aus, setzte sich, bestellte einen Kaffee und blinzelte in die Sonne. Er überlegte, ob er vielleicht ins Kino gehen sollte, um zu entspannen. Nein, kein Kino. Er musste jetzt Angie informieren, das gehörte in die Rubrik ›faires Verhalten‹. Für den Bruchteil einer Sekunde wunderte er sich darüber, warum er beim Gedanken an Angie seit Langem keine Liebe mehr spürte. Zuneigung? Ja, das war es, Zuneigung, vage Zuneigung bestenfalls.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte er Obrang, einen jungen Kollegen aus der Redaktion. Er winkte Grau zögerlich zu: immer noch unsicher und atemlos angesichts der Tatsache, dass er für so ein wichtiges Medium arbeitete.

Grau gab ihm ein Zeichen. »Du hast doch Interesse an meinem Wagen, oder?«

»Klar«, sagte Obrang. »Aber neu ist der mir zu teuer.«

»Ich versilbere ihn«, sagte Grau. »Ich denke, du solltest ihn übernehmen. Ich mache dir einen fairen Preis. Sagen wir, fünfzehntausend?«

Das war geradezu lächerlich, und Obrang wusste das. Er wollte etwas erwidern, doch Grau ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Du solltest aber den Mund halten. Kann sein, dass ich die Fronten wechsele.«

Obrang grinste, als hätte er verstanden, was Grau meinte. »Ich müsste die Bank fragen«, sagte er. »Hast du gekündigt?«

»Nicht die Spur.« Grau lächelte. »Ich will nur ein anderes Auto.«

»Ach so. Andere Marke, was? Ja gut, ich kann fragen …«

»Du musst schnell fragen«, sagte Grau. »Ich gehe morgen in Urlaub und will die Karre von der Straße haben. Wenn die Bank grünes Licht gibt, schicke ich die Papiere einfach an sie. Ist das okay?«

»Doch«, versicherte Obrang hastig, »sicher ist das okay. Ich gehe sofort zu dem Kreditfritzen. Fünfzehntausend. Das ist fair. Mach’s gut, ich melde mich.«

Grau lächelte und sah Obrang nach. Das besagte Auto war ein kleiner feuerroter japanischer Zweisitzer, den er mal gekauft hatte, als gerade die Sonne schien und er mit seinem Leben in Bonn zufrieden war. Es ist wichtig, dachte er entspannt, den Schnitt schnell und ganz hart zu machen.

Er schlenderte in Angies Wohnung, er war recht gelassen. Angie war nicht da. Er rief einen Kollegen bei dpa an. Dieser Mann, Pepe Jungert, war wahrscheinlich der einzige in Bonn, den Grau als Freund bezeichnen würde.

»Es ist so weit«, erklärte Grau. »Kannst du dich um meine Möbel kümmern?«

»Du ziehst also aus. Und wohin?«

»Ich weiß es noch nicht genau. Ich nehme erst einmal einen Job in Berlin an.«

»Na dann viel Glück. Und du meldest dich?«

»Na klar.« Er legte auf und wusste, dass er sich sehr lange nicht melden würde.

Er wurde langsam nervös, und als Angie kam, lagen bereits drei Kippen im Aschenbecher. Sie strahlte und rief: »Nur noch ein paar Stunden und wir hocken auf Teneriffa.«

Plötzlich schwieg sie und hielt mitten in der Bewegung inne. Sie senkte den Kopf, als ahnte sie, was auf sie zukommen würde. Angie hatte kupferrot gefärbte Haare. Sie war eine schlanke, hübsche Frau mit durchsichtiger Haut, betont dunklen Augenbrauen und blutrot geschminkten Lippen. Ihre Bewegungen waren schnell und wirkten unkontrolliert; ihre Hände waren schmal, lang, sehr weiß und flatterten unentwegt.

»Angie«, sagte Grau und sah sie dabei nicht an, »unsere Geschichte ist zu Ende. Ich gehe.«

Sie stand im Türrahmen und fragte zittrig: »Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

Sie ging zum Esstisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Päckchen und Plastiktüten polterten zu Boden. Angie kramte zittrig in ihrer Handtasche, suchte nach Zigaretten, zündete eine an. »Seit wann weißt du das?« Sie versuchte, das Problem zu versachlichen, sie war jetzt eine sehr praktische Angie, ihr Gesicht ein großes Fragezeichen: Was können wir tun?

»Ich habe einen neuen Job. Ich gehe wohl weg aus Bonn.«

»Und wohin?«

»Das weiß ich noch nicht genau.«

»Wenn du weggehst … ich meine, was hat denn der Job mit mir zu tun? Du kannst doch weggehen und trotzdem bei mir bleiben.« Ihr Mund wirkte wie der eines Clowns.

»Das geht nicht. Ich fühle mich schon ziemlich lange beschissen. Ich fühle mich nicht mehr zu Hause bei dir.«

»Nicht mehr zu Hause?«

»Nicht mehr zu Hause. Mir ist elend.« Lieber Gott, dachte er, lass es schnell vorbei sein.

»Du liebst mich nicht mehr?«

»Ich glaube, ja.«

»Seit wann weißt du das?«

»Seit ein paar Stunden.«

»Heißt das etwa, dass ich morgen alleine nach Teneriffa fliegen muss?«

»Das musst du entscheiden, ich fliege jedenfalls nicht.«

Sie drückte hastig die Zigarette im Aschenbecher aus. »Hast du das schon gewusst, als ich dich wegen der Filme im Büro anrief?«

»Es kam alles sehr plötzlich«, murmelte er entschuldigend.

»Das sagst du einfach so?« Sie ging immer weiter auf dem dünnen Eis.

»Ich muss es dir doch sagen«, verteidigte er sich matt.

»Wann gehst du? Ich meine …«

»Jetzt.«

»Du gehst zu deiner Frau zurück, nicht wahr? Gib es zu!«

»Nein, das hat mit ihr nichts zu tun.«

»Ich wusste, dass du eines Tages zurückgehst, ich habe es immer gewusst!«

»Darum geht es doch gar nicht. Was soll ich denn bei meiner Frau?«

»Ihr geht alle zurück, über kurz oder lang«, sagte sie schnell.

»Das ist doch verrückt.« Grau machte eine fahrige Handbewegung, weil er plötzlich nicht mehr schlucken konnte.

Dann schnellte sie auf ihrem Stuhl zu ihm herum. Offenbar hatte sie einen schwachen Punkt in seiner Endgültigkeit entdeckt. »Wieso jetzt? Hast du irgendwo eine andere? Du hast irgendwo eine andere! Ich wette, du hast es seit Langem gewusst. Es ist Tanja, nicht wahr? Sag schon, dass es Tanja ist. Sie war schon immer scharf auf dich, sie wollte …«

»Nun hör, gottverdammt, mit dem Scheiß auf!«, brüllte Grau wütend. »Was soll das? Was sollen diese hirnrissigen Verdächtigungen? Tanja? Du bist verrückt, ich hab nichts mit Tanja. Und …«

»Sie hat sich doch immer so an dich rangeschmissen!« Angie schrie jetzt und Tränen strömten über ihr Gesicht. »Bei welcher Frau steht dein neues Bett? Sag mir doch wenigstens, bei welcher dein Bett steht.«

»Ich gehe ins Hotel«, murmelte er. »Ist doch auch egal.«

»Das ist eben nicht egal!«, schrie sie schluchzend. »Ich habe es gewusst, ich habe es irgendwie gewusst. Wie sagt ihr doch immer, ihr feinen Leute? Ich bin ja nur die Tippse mit dem halben zweiten Bildungsweg. ›Nach Gebrauch wegwerfen.‹ Verdammte Scheiße, verdammte Scheiße!« Sie nahm den Aschenbecher und warf ihn kraftlos durchs Zimmer gegen die Wand.

»Hau doch ab in irgendein neues Bett. Kann sie über Bücher diskutieren? Ist sie gebildet? Wahrscheinlich redet sie zwei Stunden lang über das Schicksal Europas und fickt anschließend ganz toll. So richtig, wie du es magst.« Ihr Gesicht war verzerrt.

Grau war aufgestanden und lehnte jetzt am Fenster. Er starrte auf die Straße hinunter und wartete, dass Angie irgendwie zum Ende kam. Aber sie hatte noch immer diese wilde Wut in sich, mit der sie sich vor ihrem Elend versteckte.

»Da kommt der Herr beschissen und klein an, total kaputt ist er, der Arme. Ehe kaputt, Existenz kaputt, alles kaputt. Niemand liebt ihn. Ich gebe ihm ein Bett und alles. Eine Bratkartoffeldame, eine, die deine Scheißunterhosen in die Waschmaschine steckt. Du … du hast mich ausgenutzt, Grau.«

»Nein.« Er wehrte sich matt. »Das habe ich nicht.«

»Du hast gar keinen neuen Job, du hast nur eine neue Frau!« Sie schrie und schniefte und suchte nach einem Taschentuch. Als sie keines fand, rannte sie ins Schlafzimmer und kam kurz darauf wieder. Sie wollte irgendetwas sagen, aber Grau kam ihr zuvor.

»Du kennst sie nicht«, sagte er.

»Es gibt sie also doch!«, schrie sie. Ihr Gesicht war rot angelaufen.

»Du kennst sie nicht«, wiederholte er. »Und außerdem spielt das doch gar keine Rolle.«

»So kommst du mir nicht davon!«, schrie sie. »So nicht! Du machst hier einfach alles kaputt, verstehst du? Alles machst du kaputt!« Dann warf sie sich aufs Sofa, verbarg ihr Gesicht in der Armbeuge und weinte haltlos. Nach ein paar Minuten ebbten die heftigen Schluchzer ab.

»Es ist nun einmal so«, murmelte Grau.

»So ist es eben nicht!«, schrie sie. »Du gibst uns keine Chance. Du sagst einfach: ›Aus die Maus!‹ Wie war das denn, als du hierherkamst und nichts hattest? Ich meine, wie war das, als du …«

»Ich bin dir dafür auch dankbar«, sagte Grau bedrückt.

»Dankbar? Du hattest keine Familie mehr, deine Frau hatte dich verlassen, deine Tochter war tot. Und du hast gesagt, du schaffst es nicht, du stirbst. Und ich habe dich gehalten und ich …«

Grau ging an ihr vorbei hinaus in den Flur und zog leise die Wohnungstür ins Schloss.

Er hatte hämmernde Kopfschmerzen. An der Ecke Weberstraße stieg er in ein Taxi.

 

In der US-Botschaft in Bad Godesberg war das alte Ritual noch immer in Kraft. Eintragungen in Wachbücher, ein Metalldetektor, der sein Taschenmesser entdeckte, ein martialischer Sergeant, der es ihm abnahm und diese Waffe pingelig in einem Buch vermerkte. Dann ein Mann vom Informationsservice, der ihn fröhlich plappernd endlose Korridore entlangführte und dabei dauernd über seine eigenen Füße stolperte. Schließlich ein Zimmer, das nach Cocktails roch und von nichtssagendem Geplauder erfüllt war.

White saß in einem Sessel, sprang auf und sagte mit Nachdruck: »Da ist mein Kandidat!«

Aus einem zweiten Sessel schob sich ein dicklicher Mann empor, trat stocksteif zwei Schritte vor, streckte die Hand aus und sagte: »Freut mich. Mein Name ist Thelen, Robert Thelen.«

»Guten Tag«, sagte Grau. Die Hand des Mannes war schlaff.

White grinste und sagte verbindlich: »Herr Doktor Thelen ist vom Bundesnachrichtendienst. Er wirft ein Argusauge auf die Szene im alten Europa. Ich arbeite in dieser Sache mit ihm zusammen. Herr Thelen ist informiert.«

»Ja.« Grau stand noch immer und amüsierte sich über das umständliche Begrüßungsritual der beiden Geheimdienstmänner.

White deutet auf einen Sessel. »Wollen Sie einen Whiskey? Nehmen Sie Platz!«

»Whiskey ist keine schlechte Idee«, stimmte Grau zu. Er setzte sich. Der Raum war wie die Kajüte einer Jacht eingerichtet. Alles schien aus Mahagoni, aber es waren nur die üblichen Holzspanplatten im Mahagoni-Look.

»Haben Sie die Anker gelichtet?«, fragte White, passend zum Ambiente.

»Ja.« Grau nickte knapp. »Kann ich ein paar Fragen stellen?«

»Deshalb habe ich den Kollegen Thelen zu diesem Gespräch gebeten«, antwortete der Amerikaner lächelnd.

»Also, erste Frage«, begann Grau sachlich. »Herr Thelen ist vom Bundesnachrichtendienst. Was hat denn der damit zu tun?«

»Einfache Fragen, einfache Antworten.« Thelen straffte sich, wurde militärisch knapp. »Es geht um organisierte Kriminalität, das Schreckgespenst unserer Zeit. Wir hängen da drin, wir ermitteln auf dieser Schiene.« Dann setzte er sich.

»Zweite Frage. Ich soll einen Mann ausfindig machen, der zehn Millionen Dollar und fünfzig Pfund reines Kokain bei sich hat. Sie haben angedeutet, Ihre Leute hätten ihn nicht gefunden. Ihre Leute sind Spezialisten. Wenn Sie bisher keinen Erfolg hatten, wie soll dann ausgerechnet ich in der Sache weiterkommen?«

White grinste und nickte Thelen zu. »Ich habe dir doch gesagt, er wird es merken. Ich habe dir gesagt, er ist helle. Oder?«

Thelen erhob sich schwerfällig, als bereite ihm das körperliche Mühe. Er machte zwei Schritte zum Fenster hin, drehte sich schnell um, machte zwei Schritte auf Grau zu, rieb sich mit dem rechten Zeigefinger das Kinn und sagte dann ganz verschmitzt: »Wissen Sie, ich will ganz offen zu Ihnen sein …«

Grau hob abwehrend beide Hände. »Sie müssen nicht ganz offen sein, nur ein bisschen ehrlich.«

»Na ja, das meine ich ja«, sagte Thelen einfältig. Er räusperte sich. »Ulrich Steeben kam in Berlin an, fuhr zum Hotel und verschwand. Zunächst suchten natürlich die Leute nach ihm, die ihn ohnehin beschatteten. Also die Tandems von Herrn White. Gleichzeitig wurde ich um Hilfe gebeten und schickte Spezialfahnder und …«

»Was, bitte, sind Spezialfahnder?«, fragte Grau betont naiv.

White prustete und keuchte: »Ich sagte dir schon, er ist verdammt helle.«

»Spezialfahnder sind Kollegen, die nur nach bestimmten Personen suchen. Schnell, sehr konzentriert und ohne Rücksicht auf Überstunden, wenn ich das einmal so vorsichtig formulieren darf.«

Grau begann unterdrückt zu lachen und sah White an. »Machen Sie ihm bitte klar, dass ich wissen muss, was in Berlin wirklich gelaufen ist. Er soll nicht so verklemmt um den heißen Brei herumreden.«

Thelen war irritiert und starrte White an, als wollte er protestieren.

In diesem Augenblick richtete Grau sich halb auf und nahm ganz ungeniert die Kamera aus der Jackentasche, weil sie ihn scheinbar im Sitzen störte. Er fotografierte dabei sucherlos in den Raum hinein. Er hatte das oft gemacht und es war noch nie schiefgegangen. Er legte die Kamera auf die Kante des Schreibtisches, neben dem er saß.

Heiter sagte Grau: »Doktor Thelen, Sie sind beim Bundesnachrichtendienst. Sie müssen mich nicht darüber informieren, dass Sie in diesem Augenblick wildern. Das heißt, Sie tun etwas, was Sie eigentlich nicht tun dürfen. Sie mischen sich in einen inländischen Fall ein. Der Bundesnachrichtendienst hat in dieser Sache absolut nichts zu suchen. Ich wette, wenn das Bundeskriminalamt hier jetzt Mäuschen spielen könnte, wären die stinksauer.«

White lachte glucksend, machte eine weit ausholende Handbewegung. »Also, Robert, sag ihm alles, was er wissen will. Er ahnt, dass wir Zoff hatten.«

»Aber wieso denn Einzelheiten, verdammt noch mal?«, fragte Thelen klagend.

»Weil ich auf Abwehr stoßen werde. Ich muss wissen, was geschehen ist. White, erzählen Sie doch weiter, der ist ja beleidigt.«

»Okay, okay.« White hob die Hand. »Also, wir stehen unter Zeitdruck und hatten keine Wahl. Meine und Thelens Leute haben gesucht. Dabei haben sie einen türkischen Gastwirt mit Handschellen an einen Heizkörper gefesselt. Die Heizung war … na ja, ziemlich heiß. Sie haben einem griechischen Kleindealer das rechte Schultergelenk gebrochen. Sie haben einen Spezialfahnder der Berliner Kripo eine Treppe hinuntergeworfen und anschließend sein Auto demoliert. Sie haben in einer Nachtbar den Barkeeper durch ein geschlossenes Fenster nach draußen befördert. Zuerst kam eine Beschwerde des Innensenators, dann sonderte der Regierende ein paar ätzende Worte ab. Wir mussten alle unsere Leute abziehen. Es war eine Riesenscheiße.«

»Reden wir doch einfach Klartext: Sie hatten nicht nur Schwierigkeiten, Sie haben sie immer noch!«

»So würde ich es nicht formulieren«, murmelte Thelen.

»Das stimmt«, half ihm White.

»Mit anderen Worten: Die Sache liegt bereits im Bundeskanzleramt!« Grau lächelte mit schmalen Lippen.

»Ich weiß nicht, ob Sie das in irgendeiner Weise tangiert«, sagte Thelen aufgebracht. »Sie sind angeheuert, um jemanden zu finden, sonst nichts.«

»Sie sind arrogant«, konterte Grau. »Zwei Geheimdienste, die hier absolut nichts zu suchen haben, schnüffeln wie die Geisteskranken in Berlin herum. Sie vom Bundesnachrichtendienst dürften das gar nicht. Und die Leute von White dürfen es nur nach Absprache mit den zuständigen deutschen Behörden, also wenn sie dem Landeskriminalamt in Berlin die Pfötchen gezeigt haben. Gab es eine Absprache, White?«

»Wir hatten keine Zeit für so einen Scheiß!« Langsam wurde White auch gereizt. »Ja, da liegen massive Eingaben beim Kanzleramtsminister. Wir erwarten Scherereien, aber wir können nicht warten, bis sich die Kollegen wieder eingekriegt haben. Und Sie können als Journalist vollkommen ungeniert arbeiten, ohne irgendwie aufzufallen.«

»Sie als Journalist werden das kleine Eifersüchteleien nennen«, sagte Thelen großzügig.

»Ach, hören Sie doch auf, verehrter Bundesnachrichtendienst. Es gibt eine klare Absprache zwischen Ihnen und dem Bundeskriminalamt: Sie dürfen Auslandserkenntnisse verwerten und Sie dürfen im Ausland ermitteln. Aber vom Inland müssen Sie die Flossen lassen, hier müssen Sie an das Bundeskriminalamt übergeben. Wenn mir in meinem Territorium ständig ein Fremder über die Füße stolpern würde, wäre ich auch sauer. Sagen Sie mal, was ist das eigentlich für ein Goldkreuz an Ihrem Revers?«

Thelen trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, eine dunkelrote Krawatte. Er berührte mit einer hastigen Bewegung das kleine Kreuz und räusperte sich. »Ich bin in der katholischen Laienbewegung. Ich bin Überzeugungstäter.«

»Aha.« Grau bemerkte, wie White ergeben an die Decke blickte. »Also, jetzt erzählen Sie mir erst mal, ob Ulrich Steeben irgendwelche Kontakte in Berlin hatte. Und wenn ja, wie die aussahen.«

»Es gibt tatsächlich Kontakte«, gab White zu. »Da ist zunächst eine Frau … Sie heißt Meike Kern. Ein Wahnsinnsweib. Wir wissen definitiv, dass sie sich mit Steeben mehrere Male in Berlin traf. Und sie schliefen miteinander.«

»Haben Sie unterm Bett gelegen?«, fragte Grau schnell.

White grinste. »Nein. Also, wir nehmen es stark an, wir wissen es aber nicht genau. Diese Meike Kern ist die geschiedene Ehefrau eines Rechtsanwaltes namens Timo Sundern. Der Mann ist Wirtschaftsberater, Steuerberater und Immobilienhändler. Er hat Geld satt, er quillt sozusagen über von dem Zeug. Außerdem hat er eine starke Neigung zu Nutten und Sekt.«

»Wie kommt denn der an Steeben?«

»Sie haben sich, und das ist beweisbar, in Italien kennengelernt. Natürlich haben wir hintenherum Sundern fragen lassen, ob er wusste, dass Steeben im Anflug war. Er hat behauptet, er habe keine Ahnung von Steeben und mit dem grundsätzlich nichts zu tun.«

»Ist das glaubhaft?«

»Nicht die Spur«, sagte Thelen. »Außerdem scharwenzelt die geschiedene Meike Kern ständig um ihren Exmann herum. Sie ist Geschäftsführerin von einigen seiner Firmen und sitzt auch in ein paar Aufsichtsräten.«

»Wieso Nutten und Sekt?«, fragte Grau.

»Er besitzt Nachtklubs und ähnliche Etablissements«, sagte White. »Und er ist bisher nie zu fassen gewesen, er ist gefährlicher als ein Skorpion unterm Sand. Im Übrigen steckt er knietief in der Berliner Politik und wird von allen möglichen Leuten gedeckt. Wir vermuten, dass er sie schmiert. Aber einen Beweis haben wir nicht.«

»Wo war er in der Nacht, in der Ulrich Steeben in Berlin ankam und verschwand?«

»In einem Puff, streng genommen in seinem Puff. Er beschäftigte sich mit vielen Leuten gleichzeitig. Sein Alibi ist absolut wasserdicht. Von abends elf bis morgens um vier. Wir vermuten, dass eben dieser Timo Sundern das Büro des Regierenden Bürgermeisters auf unsere Fahnder scharfgemacht hat. Er ist der Typ, der lächelt, nichts sagt und zuschlägt.«

»Also weit besser als BND und DEA«, sagte Grau. »Wie heißt denn dieser Puff, in dem Sundern sich aufgehalten hat?«

»Es ist ein Klub. Er heißt Memphis und liegt am Savignyplatz. Sundern und Meike Kern sind fast jede Nacht dort.«

Grau nahm ein Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Tasche. »Ich vermerke mir erst einmal ein paar Namen«, sagte er nebenbei. »Wie steht Sundern mit Journalisten?«

»Gut«, sagte White. »Allerdings ist er sehr verschwiegen.«

»Die wichtigste aller Fragen: Sind Sundern oder diese Meike Kern jemals in ihrem Leben mit Drogen in Berührung gekommen? Nachtbetriebe lassen doch darauf schließen. Gibt es polizeiliche Untersuchungen in dieser Richtung?«

White schüttelte den Kopf. »Das haben wir genau überprüft: Es hat nie auch nur einen einzigen Anhaltspunkt gegeben. Nicht einmal einen Verdacht. Ich gebe zu, dass das erstaunlich ist.«

»Wieso machen Sie Notizen?« Thelens Stimme klang schrill.

»Weil ich Journalist bin«, sagte Grau. »Hat Sundern irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Finanzamt?«

White schüttelte den Kopf. »Nicht die geringsten. Er bezahlt seine Steuern, und das pünktlich. Diese Art von Leuten bezahlt ihre Steuern immer pünktlich.«

»Sie dürfen sich nichts notieren«, quäkte Thelen aufgeregt. »Schließlich ist das hier so etwas wie eine geheime Mission.«

»Das ist es nicht«, sagte White ganz ruhig. »Er ist und bleibt Journalist, und er macht sich Notizen. Das gehört zu seinem Job.«

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Grau sachlich.

»Ich habe Ihre Unterlagen hier«, sagte White. »Hier ist zunächst der Kontrakt über die zehntausend Dollar Vorschuss und die weiteren zwanzigtausend Erfolgsprämie. Dann einmal fünftausend Dollar Bewegungsgeld. Denken Sie daran: Heben Sie jede gottverdammte Quittung auf, die bedeuten Bargeld. Und hier ist das Ticket. Es gilt unbegrenzt für Flüge zwischen Berlin und Bonn. Sie wohnen im Eden, also im Zentrum. Am Flughafen bekommen Sie einen kleinen Wagen, er ist auf Ihren Namen gemietet …«

»Das ist alles sehr fürsorglich«, unterbrach Grau. »Aber ich will das Hotel nicht. Und den Wagen auch nicht …«

»Moment mal!« Thelen schien vor Erregung zu explodieren. »Sie müssen sich aber an gewisse Spielregeln halten …«

»Robert«, wehrte White ab, »lass ihn doch erst einmal ausreden.«

»Ich gehe sofort nach Berlin. Ich brauche allerdings für heute Abend ein Hotel hier in Bonn. Mein Quartier in Berlin suche ich selbst, mein Auto organisiere ich auch. Ist das okay?«

Thelen wollte argumentieren, aber White nickte bestimmt. »Selbstverständlich. Sie melden sich routinemäßig hier in der Botschaft.«

Grau nickte ebenfalls. »Dann habe ich noch eine Bitte. Sie denken doch bestimmt dran, mich beschatten zu lassen. Das sollten Sie sich gut überlegen …«

Thelen setzte zu einer Erklärung an. Dann fixierte er White, der grinsend in seinem Sessel hockte und ohne jeden Vorwurf feststellte: »Robert, Grau will rauskriegen, ob wir einen Babysitter für ihn haben. Spätestens jetzt weiß er doch, dass wir tatsächlich einen haben.«

»Ach so«, sagte Thelen dümmlich. »Zu seinem Schutz.«

»Ziehen Sie ihn zurück«, forderte Grau. »Er wird mich bloß gefährden, und entdecken werde ich ihn auch.«

»Okay«, stimmte White zu. »Jetzt brauche ich eine Unterschrift. In den Kuverts da ist Ihre Kohle.«

Grau unterschrieb mindestens zwanzig Formulare, die er nicht durchlas; dann steckte er Geld und Ticket in die Brusttasche seines Hemdes und sagte: »Ich melde mich wie verabredet. Noch etwas?«

»Ja. Sie sollten mir sagen, wo Sie diese Nacht verbringen.«

Grau nickte. »Ich fahre heim, packe meine Sachen und gehe in irgendein Hotel.«

»Holiday Inn«, bat White. »Ich muss Ihnen einen Pauker schicken. Vorschrift. Er wird um Mitternacht aufkreuzen und sich als Hector zu erkennen geben. Zum Abschluss sollten Sie sich noch Ulrich Steeben genau ansehen.« Er zog ein großes Porträtfoto aus einem braunen Umschlag und hielt es Grau hin.

»Sie können das Foto nicht mitnehmen. Deshalb prägen Sie sich den Mann genau ein. Helles Haar, ein ziemlich rundes, brutales Gesicht, die Kinnpartie stark ausgeprägt. Makellose Zähne, immer lächelnd. Ich hätte an seiner Stelle längst einen Krampf im Kiefer. Er sieht aus wie zweiundzwanzig, ist aber sechs Jahre älter.«

»Hat er irgendwelche Macken, irgendwelche Besonderheiten?«

»Nein. Er ist so stromlinienförmig, dass man ihn nur schwer beschreiben kann. Macken sind nicht bekannt. Er trinkt nicht, er raucht nicht.«

»Er ist doch verschwunden. Was hat man denn seinen Angehörigen erzählt?«

»Da müssen Sie das Auswärtige Amt fragen.«

»Gut«, sagte Grau. Die Frage nach dem Pauker verkniff er sich. Dieses komische Kauderwelsch der Drogenspezialisten! Er würde es ja bald erfahren.

Sie gaben sich zum Abschied nicht die Hand.

Der junge Mann, der ihn unermüdlich plappernd ins Zimmer geführt hatte, nahm ihn wieder in Empfang und geleitete ihn zum Ausgang. Ein Taxi wartete.

 

Angie war nicht da. Sie hatte einen Zettel auf den Küchentisch gelegt. Die Schrift lief schräg nach links, sie lag fast auf dem Rücken.

Ich bin zu meinen Eltern, ich kann nicht allein in der Wohnung sein. Du hast uns keine Chance gegeben.
Angie

Er starrte sehr lange auf das Papier, seufzte dann und packte in aller Ruhe seine Koffer. Als das Taxi vor dem Holiday Inn hielt, war es zehn Uhr abends. Er bestellte sich ein Steak mit grünem Pfeffer aufs Zimmer, aß genüßlich und machte sich währenddessen Notizen. Er schrieb einen Brief an seine Bank und informierte sie, dass sein Gehalt weiterlaufe und er seinen Wagen an einen Kollegen verkauft habe.

Er deponierte zweitausend Dollar in einem Geldgürtel, den Rest des Geldes steckte er in Kuverts mit dem Hotelsignet und verstaute sie in seinem Koffer unter der Wäsche. Dann legte er sich aufs Bett.

Es war Punkt Mitternacht, als der Portier anrief. Ein gewisser Herr Hector habe an der Rezeption nach ihm gefragt.

»Schicken Sie ihn rauf«, sagte Grau.

Der Mann, der nun klopfte, war eigentlich eher ein dünnes Männlein. Vielleicht war er sechzig, vielleicht auch siebzig Jahre alt. Er trug einen schwarzen Anzug über einem schwarzen Hemd und eine grellrote Lederfliege. Er hatte eine Glatze und lächelte freundlich mit fast geschlossenen Augen. Sein Gesicht war scharf geschnitten und sehr hager. Er sagte fröhlich: »Al schickt mich, ich bin Hector.«

»Ja, ja. Setzen Sie sich. Was, bitte schön, ist denn ein Pauker?«

Der Gnom lächelte. »Ich bin so einer. Ich soll Sie instruieren. Soweit ich informiert bin, wollen Sie in einer äußerst feindlichen Welt leben. Da können ein paar gute Tipps nicht schaden, oder?«

»Das ist richtig«, stimmte Grau erheitert zu. »Werden Sie mir auch beibringen, wie ich jemanden schnell und brutal töte?«

Hector lächelte maliziös. »Man hat mich vor Ihnen gewarnt: Sie sind ein intellektueller Typ, einer mit Ironie. Sind Sie jemals verprügelt worden?«

Grau nickte. »Drei- oder viermal. Aber es war immer harmlos. Ich bin keiner, der sich prügelt.«

»Das mag sein.« Hector grinste. »Aber zuweilen werden Sie nicht danach gefragt, nicht wahr?«

»Also gut, Sie Pauker. Was wollen Sie loswerden?«

Der kleine Mann setzte sich sehr adrett hin und hielt mit beiden Händen die Fliege fest, als würde sie sonst gleich davonfliegen.

»Sagen wir mal so: Ich bin für gewöhnlich der letzte Verbündete, den unsere Leute sehen, bevor sie in irgendeinen Einsatz gehen. Ich bin, um Gottes willen, kein Scharfmacher, ich rekapituliere nur das, was sie eigentlich wissen sollten, aber zuweilen vergessen. In der Szene, in der Sie sich bewegen werden, kommt es gelegentlich zu äußerst widerlichen Brutalitäten. Deshalb müssen Sie vor allem die Beweggründe Ihrer Gegner kennen.«

»Aha. Und die wären?«

»Erstens Platzhirschgehabe, zweitens Hilflosigkeit. Diese Gewalt ist sehr selten gezielt oder kalkuliert. Ich denke, das sollten Sie wissen.«

»Das interessiert mich«, sagte Grau, »erzählen Sie mehr.«

»Nun«, sagte Hector, »man muss zunächst zwischen den einzelnen Gruppen unterscheiden lernen. Da sind zum Beispiel die Wasserträger. Egal, ob Frau oder Mann, sie sind abhängig. Meistens von irgendeinem Stoff. Und weil sie den unbedingt haben wollen, sind sie jederzeit bereit, auf Befehl Gewalt auszuüben. Aber sie haben ganz viel Schiss. Gewalt als gelegentlich notwendige Attitüde. Klar?« Er sah Grau an wie ein freundlicher, neurotischer Musiklehrer.

»Dann gibt es«, fuhr er fort, »die nächsthöhere Riege. Das sind die, denen die Organisation eine gewisse Selbstständigkeit zubilligt. Das sind Menschen, die unter großem Stress stehen. Sie müssen nämlich sich und den anderen ständig beweisen, wie gut sie sind. Werden sie gekauft, können sie schlimm sein, weil sie nämlich nicht fragen, weshalb sie Gewalt austeilen sollen. Auch klar?«

»Auch klar.« Grau war ein gelehriger Schüler.

»Dann kommt die nicht zu unterschätzende Gruppe der Schnorrer und Speichellecker, die sich einbilden, Karriere machen zu können. Sie sind deshalb so unberechenbar, weil die Gewalt, die sie ausüben, oft gar keinen Grund hat, jedenfalls keinen erkennbaren. Es kann sein, dass jemand aus dieser Gruppe Sie ausschließlich deshalb verprügelt, weil er auf irgendeinen, der tatsächlich Macht hat, einen guten Eindruck machen will. Dann die sehr kleine und durchaus elitäre Gruppe der Menschen, die sich vorbehaltlos an jeden verkaufen. Es sind Männer, die auf ein bloßes Augenzwinkern hin brutal und meist sehr gekonnt zuschlagen. Sie sollten diese Schatten der wirklich Mächtigen ernst nehmen. Die brauchen keinen Grund, die brauchen nur ein Augenzwinkern, und es stört sie nicht, wenn ihr Opfer dabei aus Versehen stirbt.«

Grau wehrte ab: »Ich bezweifle, dass ich so tief in diese Welt eintauchen muss. Ich suche nur einen Mann, sonst nichts.«

Hector nickte freundlich. »Sie untertreiben ein wenig, mein Lieber. Der Mann besitzt fünfzig Pfund reines Kokain und zehn Millionen US-Dollar. Das heißt, dieser junge Mann ist umgerechnet läppische fünfzig Millionen Mark schwer und spaziert nun ganz unverfroren in Berlin umher. Was glauben Sie, was so ein Vermögen an Gewaltpotenzialen freisetzen kann?«

Grau lächelte. »Sie sind ein erstaunlicher Typ.« Er war doch ein bisschen beeindruckt.

Der kleine Mann kicherte geschmeichelt. »Tatsache ist, dass all diejenigen hinter diesem Mann her sein werden, die vom Stoff und vom Geld wissen. Kapiert, mein Lieber? Geld macht fast jeden geil. Sie werden also gezwungen sein, auch auf Menschen zu achten, die in Ihren Augen auf den ersten Blick gar nicht in Betracht kommen. Bedenken Sie, dass es kaum jemandem gelingt, auch nur eine Million zusammenzubekommen – und hier liegen plötzlich fünfzig Millionen gewissermaßen auf der Straße!«

Er räusperte sich und schlenderte zu dem kleinen Eisschrank hinüber. »Auch ein Wasser?«

»Ja, bitte«, sagte Grau.

Hector kehrte zum Tisch zurück und goss Wasser in zwei Gläser. »Was für Schlussfolgerungen ziehen Sie aus dem, was Sie bisher gehört haben?«

»Nur die, dass ich wie bisher selbst entscheiden muss, was ich tue.«

»Das könnte richtig sein.« Hector war ganz in Gedanken versunken. »Können Sie mir jetzt mal sagen, auf welches menschliche Phänomen Sie besonders achten müssen?«

Langsam hatte Grau genug. »Was soll das eigentlich? Spielen wir hier Schule?«

»Ich bin ein Pauker«, erwiderte Hector beharrlich lächelnd. »Das Phänomen, auf das Sie am meisten achten müssen, ist die Furcht, mein Lieber. Wenn die Furcht Ihres Gegenübers besonders groß ist, sollten wiederum Sie besonders vorsichtig sein.«

Grau lächelte leicht. »Ich verlasse mich darauf, dass mir irgendetwas einfällt.«

Hector strahlte, befingerte seine Fliege und sah eine Sekunde lang wie der Lieblingszauberer aller Kinder aus.

»Eine kluge Bemerkung, mein Lieber, nur vollkommen neben der Spur. Diese Szene lebt von der Angst, und die Angst gebiert unaufhörlich Gewalt. Also sollten Sie Gewalt austeilen, schnell und ohne Rücksicht und ohne zu fragen.«

»Bis jetzt waren Sie ein kluger, amüsanter Mann«, sagte Grau gereizt, »jetzt werden Sie langsam unklug. Wie soll ich denn bitte schön Gewalt ausüben, wenn ich nicht gewalttätig bin und es auch nicht sein will? Ich gehe dorthin und werde als Journalist arbeiten. Ich fahre nicht mit dem Maschinengewehr nach Berlin.«

Hector nickte und fixierte einen fernen Punkt hinter Graus Schulter. »Das gefällt mir schon besser«, sagte er heiter. »Selbstverständlich teilen Sie normalerweise keine Gewalt aus. Aber es kann in Berlin eben der Fall eintreten, dass Sie an Gewalt denken müssen, weil die Situation einfach nicht anders zu bewältigen ist. Dann rate ich zu schneller Gewalt, bloß keine großen Vorankündigungen.

Bedenken Sie, dass die Szene, in der Sie leben werden, sich auf Gewalt geradezu verlässt. Das heißt: Gewalt ist dort eine Umgangsform, auch wenn uns das hier roh und dumm erscheinen mag. Sie werden auf viele Gruppen treffen. Das Hauptmerkmal dieser Gruppen besteht darin, dass man auf den ersten Blick nicht erkennen kann, wie sie strukturiert sind. Wenn Sie aber darauf achten, wer auf wen ängstlich reagiert, werden Sie schnell begreifen, wer in dieser Szene welche Rolle spielt. Die Kleinen fürchten sich dort grundsätzlich vor den Großen. Das gilt selbstverständlich auch für das Verhältnis der Gruppen untereinander. Achten Sie einfach darauf, wer ängstlich reagiert, dann werden Sie wissen, wer die Macht hat. Leuchtet Ihnen das ein?«

Grau nickte gehorsam, sagte aber nichts.

»Ich habe mir Gedanken über Sie gemacht«, fuhr dieser erstaunliche kleine Mann fort. »Ich dachte mir: Wie kann man ihm helfen? Haben Sie jemals mit einem Schatten gearbeitet?«

»Was um alles in der Welt ist denn ein Schatten?«

»Ein Schatten ist ein Mensch, der einfach da ist. Eben wie ein Schatten. Den wird man ja auch nicht los. Sie sollten also unbedingt einen Schatten haben.«

»Also so was wie einen Aufpasser?«

»O nein!« Hector strahlte. »Es muss jemand sein, den Sie ordentlich bezahlen dafür, dass er einfach da ist. Kein Außenstehender darf erkennen, dass er Ihr Schatten ist. Kapiert?«

»Das kapiere ich, das leuchtet ein.«

»Gut. Und hier habe ich noch ein kleines Mitbringsel für Sie, das Sie unbedingt mitnehmen sollten …«

Völlig ungerührt legte Hector eine Waffe auf den Tisch. Grau dachte an die B-Filmchen, die er sich manchmal anschaute. Das musste ein Colt sein.

»Das Mitbringsel ist amerikanisch und sehr solide. Ein Colt Masterpiecespecial, selbst für einen Anfänger kinderleicht zu handhaben. Dieser Waffenschein hier ist auf Ihren Namen ausgestellt. Er trägt sämtliche Unterschriften und Stempel der zuständigen Behörden in Bonn. Hier sind auch noch zwei Pillendöschen.

Die eine, die grüne, enthält Kapseln mit jeweils zwanzig Milligramm Valium. Falls Sie mal auf hundertachtzig kommen, sollten Sie eine nehmen. In der zweiten Schachtel, der roten, befindet sich ein Ephedrinkonzentrat. Ephedrin ist im Normalfall ein stark krampflösendes Mittel bei Husten und Erkältung, es wirkt aber auch aufputschend. Man nennt es Speed. Damit hat der Pauker seine Schuldigkeit getan.«

»Glauben Sie ernsthaft, dass ich schießen werde?«, fragte Grau nachdenklich.

Hector stand auf und sagte mit feinem Lächeln: »Indiskretion ist nicht meine Sache, ich hasse das eigentlich. Aber selbstverständlich habe ich Ihre Akte gelesen. Sie haben den Dealer Ihrer Tochter in Frankfurt zum Krüppel geschlagen …«

»Nicht schon wieder!«, schrie Grau.

Einen Augenblick lang herrschte gespannte Stille.

Hector hatte plötzlich ein Gesicht wie aus Stein. »Sie haben sie geliebt, ich weiß. Sie leiden immer noch, nicht wahr? Nun, Sie gehen jetzt in diese Welt von damals zurück, und ich möchte vermeiden, dass Sie sich etwas vormachen. Das wird selbstverständlich kein normales journalistisches Unternehmen.

Bevor Sie also irgendetwas tun, bevor Sie auch nur irgendeinen Menschen um Auskunft bitten, sollten Sie genau beobachten, wer ängstlich ist und wer ihm diese Angst einjagt. Denken Sie daran: Besorgen Sie sich als Erstes einen Schatten. Ich bedaure, aber mehr kann ich heute nicht für Sie tun. Jetzt unterschreiben Sie bitte diese Formulare. Sie bestätigen damit, dass Sie die Pillen und die Waffe erhalten haben.«

»Es tut mir leid«, sagte Grau. Er unterschrieb ohne weiteren Kommentar.

»Ich bin nicht nur ein Pauker«, sagte der kleine Mann, »ich bin auch ein Leichenbestatter. Ich muss in aller Welt die Toten einsammeln, die absolut nicht auf mich hören wollten. Ich möchte Sie nicht in einem Zinkbehälter aus Berlin ausfliegen, Sie Amateur. Machen Sie’s gut und eine angenehme Nacht.«

Er ging tänzelnd hinaus und zog die Tür ganz leise hinter sich ins Schloss.